Unihertz Titan Pocket: BlackBerry-Alternative im Hands-on
Einst hatte jeder Manager einen BlackBerry. Seine Besonderheiten: eine echte Tastatur und geringsten Strom- und Datenverbrauch. Trotzdem kamen E-Mails in Echtzeit, selbst über heute als "langsam" geltende GPRS-EDGE-Netze beim Nutzer an. Den Umstieg zum Touchscreen hatte BlackBerry (un)bewusst verschlafen, und in Sachen Multimedia war das Unternehmen vielleicht viel auch lange viel zu zurückhaltend.
Das Genick gebrochen hat aber im Endeffekt die völlige Ignoranz der Kundenwünsche nach einigermaßen bezahlbaren Geräten mit echter Tastatur, die technologisch auf der Höhe der Zeit sind. Und wo es diese Geräte tatsächlich gab, wurden sie mutwillig verschwiegen oder nicht gezeigt, geschweige denn beworben.
TCL - letzte Chance
Die Ähnlichkeit ist klar: BlackBerry Q10 (links) und Unihertz Titan Pocket (rechts).
Foto: Henning Gajek / teltarif.de
Mit dem Ausstieg des OEM-Herstellers TCL, der die letzten BlackBerry-Geräte der "Key One"- und "Key2"-Serie bauen durfte, war erst einmal banges Warten angesagt. Im Netz finden sich zahlreiche Rendering-Videos, die z.B. einen "Key3" zeigen. Das war aber im Prinzip nur die optische Weiterentwicklung bestehender Geräte und leider nichts reales.
Ein 5G-Blackberry vom bis dahin unbekannten "Hersteller" OnwardMobility versprach viel, hielt aber am Ende gar nichts, warum auch immer.
Unihertz aus China
Da tauchte aus China das sehr kleine Unternehmen "Unihertz" auf und stellte mit dem "Unihertz Titan" einen Klotz vor, der an einen viel zu groß geratenen BlackBerry Q10 oder das spätere Modell "Classic" erinnert. Das Titan ist nach IP67 zertifiziert (staubdicht), wiegt offiziell 303 Gramm und hat die Masse 153,6 x 92,5 x 16,7 mm.
Ein IPS-TFT Farbdisplay mit 16 Millionen Farben und einer Auflösung von 1430 x 1438 Pixel (4,6 Zoll) liefert 441 ppi und hat ein Verhältnis "Bildschirm zu Gehäuse" von 48 Prozent, ist also quasi quadratisch. Wir konnten das Gerät noch nicht testen, lesen aber, dass die Kamera schwach und das Display leicht "unscharf" wirke. Es kann noch für etwa 320 Euro/US-Dollar im Netz bestellt werden.
Unihertz Titan Pocket
Bald legte Unihertz nach und "verkleinerte" den Titan zu einem Titan Pocket. Wer wollte, konnte sich an einer Kickstarter Kampagne beteiligen und per Kreditkarte in HK$ (HongKong Dollar) zahlen. Danach erhielt man viele Nachrichten über den Stand des Projektes und schließlich die Abfrage der genauen Versandadresse. Bald folgte eine kryptische Tracking-Nummer, die sich aber trotz Hinweisen auf mögliche Spediteure in der Info-E-Mail nicht verifizieren ließ und - auf einmal stand der Amazon-Bote vor der Tür.
Inzwischen kann das Titan Pocket einfacher im Internet bestellt werden. Wer auf "Nummer sicher" gehen möchte, kann es über Amazon erwerben, was den Kunden jegliche Zollformalitäten erspart. Der Preis liegt aktuell deutlich unter 299 Euro/US-Dollar. Im Rahmen der Kickstarter-Kampagne war das Gerät nochmals deutlich günstiger gewesen.
Oder doch BlackBerry Q10?
Der BlackBerry Q10 mit seinem hochstabilen Betriebssystem BB OS10, unter dessen Haube das in der Automobilwelt weitverbreitete Kernsystems QNX läuft, war sehr lange Zeit das Hauptarbeitswerkzeug des Autors. Da es über einen kompletten Internetzugang verfügte, war eine Anbindung an den BlackBerry-Server nicht mehr notwendig. Es konnten E-Mails über IMAP oder POP3 abgerufen und Kalender via CalDAV oder Adressbücher mit CrdDAV oder nach Exchange-Protokoll oder synchronisiert werden. Als SIM-Karte (nur eine SIM-Karte möglich) wurde eine Micro-SIM verlangt und als Speichererweiterung konnte eine SD-Karte eingelegt werden. Mit Tricks ließen sich anfangs auch Android-Programme aufspielen, aber das OS10-Konzept wurde aufgegeben, weil es (angeblich) zu wenige Apps für OS10 gegeben hätte oder vielleicht nur die falschen und der "Android-Emulator" konnte aus software-architektonischen Gründen nicht weiter aktualisiert werden.
Egal: Das Q10 funktioniert bis heute, bis auf die BlackBerry spezifischen Dinge wie das BlackBerry-User-Konto oder den AppStore, die längst abgeschaltet wurden. Mobilfunktechnisch sind neben 2G oder 3G sogar 4G/LTE-Datenverbindungen möglich, Telefonieren über 4G geht aber leider nicht, über 3G (wo noch vorhanden) oder 2G aber schon.
Also doch Titan Pocket?
Zurück zum Titan Pocket: Seine Größe ist auf 132,5 x 73,2 x 16,8 mm geschrumpft. Das Gewicht wird mit 216 Gramm angegeben, unser Gerät brachte aber 228 Gramm (mit 1 SIM- und 1 SD-Karte) auf die Waage.
Das Titan Pocket wird ab Werk mit Android 11 ausgeliefert. Sicherheitsupdates gab es bisher nur wenige, der aktuelle Stand (zum Testzeitpunkt) ist Android 11, mit dem Sicherheitsupdate vom 5. Dezember 2021 und den Google Play Systemupdate vom 1. Juni 2022.
Das Grundprinzip von BlackBerry Q10 (links) und Titan Pocket (rechts) ist ähnlich. Das Pocket ist aber fast doppelt so schwer.
Foto: Henning Gajek / teltarif.de
Ein Update auf Android 12 ist nach Auskunft von Unihertz im Netz nicht vorgesehen. Dazu muss man wissen, dass beim Titan Pocket unter der Haube ein SoC von Mediatek arbeitet, genauer der MT6771V/CT. Der hat acht Kerne, wovon vier mit 1,99 GHz takten (Cortex-A53) und vier mit 2,11 GHz (Cortex-A72), die CPU 0-3 kann von 793-1,99 GHz laufen und die CUP 4-7 entsprechend schneller. Die Grafik übernimmt die Mali-G72 GPU. Ab Werk werden 6 GB RAM verbaut, wovon auf unserem Gerät etwa 3,6 GB verfügbar waren. Der interne Arbeitsspeicher beträgt knapp 111,32 GB (128 GB brutto) und dazu kommt noch eine externe SD-Karte, falls gewünscht. Dabei muss der Nutzer entscheiden, ob SD-Karte mit einer SIM-Karte (Nano) oder zwei SIM-Karten (Nano) dann aber ohne SD-Karte genutzt werden soll. Bei knapp 128 GB Speicher sollte das verschmerzbar sein.
Das IPS-TFT Farbdisplay verfügt über 16 Millionen Farben und eine Auflösung von 720 x 716 Pixeln bei einer Diagonale von 3,1 Zoll (7,87 cm) oder einer Pixel-Dichte von 328 ppi.
Die Kamera des Titan Pocket wird vom Testprogramm mit 12,3 MP ermittelt, bei einer Blende von f/1,7 und einer Brennweite von 3,93 mm. Hochpräzisionsaufnahmen kann man hier nicht erwarten, aber bei ordentlichem Licht gibt es brauchbare Bilder.
Als Akku ist ein Li-Ionen-Akku mit 4000 mAh Kapazität verbaut, der eine Spannung von etwa 4,2 Volt abgibt.
WiFi mit starken Schwächen
Bluetooth ist möglich. WiFi auf 2,4 oder 5 GHz auch, aber hier gibt es ein wesentliches Manko: Sogenannte MESH-WLAN-Netzwerke, wo zwischen den verschiedenen Zugangspunkten und Frequenzen gesprungen wird, mag das Pocket nicht. Auch moderne Sicherheitsprotokolle wie WPA2/3 mit 2,4/5 GHz scheinen die WLAN-Verbindung unvermittelt zum Abbruch zu bringen. Das Problem "MESH" räumt Unihertz auch ein. Wir haben am Router ein "Gast-WLAN" im historischen WPA/WPA2 Protokoll eingerichtet und dann auf 2,4 GHz verbunden. Das ist einigermaßen stabil, aber hier müsste Unihertz, bzw. der Hardware-Hersteller Mediatek dringend etwas tun.
Neben Bluetooth und WiFi verständigt sich das Pocket auch per NFC (z.B. für Google Wallet/Pay) und GPS neben den üblichen Sensoren zur Bewegung und Standortbestimmung. Freunde einer Kompass-App sollten sich Zeit nehmen, den Kompass ausgiebig zu kalibrieren. Zu Anfang neigte er dazu, Norden und Süden um ziemlich exakt 180 Grad zu vertauschen.
Mobilfunk von 2G-4G - kein 5G
"Draußen", wo es keine "bekannten" WLANs gibt, kann man mit entsprechendem Datenvolumen über die SIM-Karte surfen. Das Pocket versteht die üblichen Mobilfunk-Standards 2G/GSM (fürs Roaming im Ausland auch 3G/UMTS) und 4G/LTE. Mit 5G kann das Pocket absolut nichts anfangen.
Schwerpunkt: Tastatur
Auch auf der Rückseite sind die Unterschiede deutlich: Titan Pocket (links) und Q10 (rechts)
Foto: Henning Gajek / teltarif.de
Die große Stärke des Titan Pocket ist die alphanumerische-Tastatur. Rein aus diesem Grund werden sich die meisten Interessenten das Gerät kaufen. Originell bis problematisch ist das quadratische Displayformat. Nicht jede App kommt damit klar: Es kann passieren, dass Schaltflächen bei bestimmten Anwendungen fast oder gänzlich unerreichbar sind, d.h. die Anwendung ist auf dem Gerät schlicht nicht nutzbar. Wer beispielsweise mit dem Zug fahren und seine Fahrkarte aus der DB-Navigator App hervorholen will, der QR-Code passt nicht richtig auf den Bildschirm.
Wichtige Tipps zur Tastatur:
Bevor man richtig Freude an der Tastatur haben kann, ist am Titan Pocket einiges zu beachten und zu konfigurieren. Die Tastatur könnte man auf "englisch international lassen", dann stimmen die Tasten "Z" und "Y" wie aufgedruckt und auch die dünner eingravierten Sonderzeichen und Ziffern sind über die Alt-Taste (die Tasten nacheinander - nicht gleichzeitig drücken!) zu erreichen. Hat man sich aber für "German" entschieden, ist die mit "Y" beschriftete Taste ein "Z", wie wir es von QWERTZ gewohnt sind und aus dem "Z" ein "Y". Wird nun Alt-Z getippt, gibt es kein "!"-Ausrufezeichen, sondern ein ")"-"Klammerzu". Man kann sich daran gewöhnen.
Wer schnell tippt, fliegt permanent aus dem Textfenster heraus ins Hauptmenü. Das macht keinen Spaß. Folgendes ist daher einmalig einzustellen:
- Einstellungen - Apps & Benachrichtigungen - erweitert - Standard Apps - Standard Apps - "App für digitalen Assistenten" - Option "Keine" auswählen.
- Einstellungen - Bedienungshilfen - Systemsteuerung - Bedienung über Gesten auf "Aus" (Schiebeschalter oben) stellen.
- Einstellungen - System - Sprache und Eingabe - Tastaturen - Kika Keyboard / Physische Tastatur aws9523-key
- Einstellungen, Intelligente Hilfe, weitere Einstellungen, Home-Tastenfunktion
- Die virtuelle Tastatur bzw. die Sonderzeichen sollte man eingeschaltet lassen, weil es vieles vereinfacht.
Der Mittelpunkt der oberen Tastaturreihe ist nicht nur der "Feuerknopf" sondern auch ein Fingerabdruck-Sensor. Rechts daneben das Quadrat zeigt die Taskliste an und erlaubt, einzelne oder alle Apps "abzuschießen". Der Pfeil links vom Sensor ist die "Back"-Funktion. Über "alt" werden die Sonderzeichen auf der Tastatur angesteuert.
Wer viel in sozialen Netzwerken textet, sei es auf WhatsApp, Threema, Telegram oder Signal beispielsweise, wer viele E-Mails schreibt, weiß die Vorteile einer alphanumerische Tastatur zu schätzen. Ok, die Sonderzeichen und Umlaute erscheinen nicht sofort, das "ä" beispielsweise wird durch längeres Drücken der Taste "A" erzielt, dann kann man in einem Menüband am unteren Bildschirmrand auswählen. Es gibt auch Vorschläge für Textkorrekturen, an die legendäre Texterfassung bei BlackBerry OS10 kommt das aktuelle Gerät nicht dran.
Bestimmte Apps funktionieren auf dem Titan Pocket einfach nicht. Beispielsweise die DB-Navigator App der Deutschen Bahn.
Foto: Henning Gajek / teltarif.de
Auch vom Gewicht gibt es vom Q10 zum Pocket einen deutlichen Unterschied. Etwa 135 Gramm für ein Q10 mit SIM-Karte und SD-Chip stehen 228 Gramm für das Titan Pocket mit 1 SIM-Karte und einer SD-Karte gegenüber. Die Nutzung des Pocket kann also für kleine Hände mit der Zeit "ermüdend" sein.
Das Titan-Pocket verfügt über eine 3,5-mm-Klinkenbuchse, das Kopfhörer Kabel kann auch als UKW-FM-Antenne für das eingebaute Radio dienen. Für das Titan Pocket gibt es von Zubehörherstellern Schutzrahmen oder von Unihertz selbst eine Ledertasche mit Gürtelclip. Im Gerätekarton ist neben dem Titan Pocket noch ein USB-A-Netzgerät, dass 100-240 Volt Wechselspannung verdaut und in 5 Volt, 2 Ampere also 10 Watt umsetzt, dazu ein Kabel von USB-A auf USB-C.
Ein Fazit
Bei Geräten mit echter Tastatur ist die Auswahl stark geschrumpft. Diese Nische hat Unihertz mit Erfolg besetzt. Damit der Spaß nicht zu teuer wurde, hat Unihertz sich den OEM-Designer/Hersteller Mediatek gewählt. Der ist im günstigen Preis-Segment weltweit führend. Branchenvertreter klagen aber schon lange unisono, dass Mediatek in Punkto Software-Updates mehr als "zurückhaltend" sei.
Die künftige Gesetzeslage wird sie nun "zwingen", Updates bereitzustellen, das werden dann wohl in erster Linie die jeweiligen Sicherheitspatches von Google für Android sein, sofern Google diese nicht über den PlayStore am Hersteller vorbei ausliefern kann.
Ob das Unihertz Titan Pocket ein würdiger Nachfolger für das BlackBerry "Q10" oder "Classic" ist, bleibt Geschmacksache. Von der Handlichkeit und der Software gibt das Q10 auch heute noch Maßstäbe vor, die seitdem nicht wieder erreicht wurden. Es fällt heute jedoch auf, dass das Q10 "richtig viel Zeit" braucht, um mehrere E-Mail- und Adresskonten zu verwalten.
Das Unihertz Titan Pocket ist deutlich moderner und mit Android 11 derzeit noch auf der Höhe der Zeit. Ob es dafür jemals Android 12 oder 13 geben wird, muss leider stark bezweifelt werden.
Bei einem Preis von knapp unter 300 Euro ist das Pocket ein Versuch Wert, wenn man Wert auf Tastatur zu schnelleren Texteingabe legt. Es mag auch Mitmenschen geben, die an einer Full-Touch-Tastatur schneller als an einer mechanischen Tastatur tippen oder man legt sich eine separate Bluetooth-Tastatur (die extra Platz braucht) zu.
Immerhin ist dem Unternehmen Unihertz zu danken, dass sie den Bedarf eine kleinen aber engagierten Zielgruppe erkannt haben und ihn - so gut es geht - erfüllen.
Möglicherweise ist das Titan Pocket auch als Zweitgerät interessant. Für Fotos, virtuelle oder augmentierte Realität oder Spiele kann man ja weiterhin ein Oberklassegerät mit schnellem Prozessor und hochauflösender Kamera wählen, das Pocket ist dann eben die Taschen- oder Reiseschreibmaschine.
Bevor Sie aber das Pocket bestellen, raten wir noch ein wenig zu warten. Bald stellen wir Ihnen das Unihertz Titan Slim vor, ein möglicher Nachfolger für das ebenfalls in die Jahre gekommene Key2LE von TCL/Blackberry.
