Frei Sprechen
26.05.2009 16:03

Kommunikationslosigkeit und Identitätsverlust im Internetzeitalter?

Bei Facebook bastele ich mir ein Ich
teltarif.de Leser bilderbuch schreibt:
Leben wir eigentlich noch im Zeitalter des Web 2.0? Oder hat die aktuelle Epoche schon einen anderen Namen bekommen? Vielleicht könnte man von einem immer mehr an Intensität gewinnenden Web 2.0 sprechen. Wie stark das Internet und die zugehörige Technik den Alltag beherrschen, wird einem gar nicht oft bewusst, da es so stark in der Normalität aufgegangen ist. Menschen, die ihr gefühltes „wahres“ Leben in diversen Foren, sozialen Netzwerken oder Blogs erleben, gibt es nicht nur im aktuellen Roman von Daniel Kehlmann („Ruhm“). Auch wenn Kehlmann hier einen gewissen, klischeebehafteten Typus ironisch betrachtet, bedeutet das nicht, dass „Virtualitätssüchtige“ nicht in der Realität anzutreffen sind. Und es dürfte mittlerweile konsensfähig sein, dass dem Internet ein großes Suchtpotenzial innewohnt.

Mehr „reden“ bzw. schreiben, weniger sagen

In Kehlmanns Roman sticht vor allem eine Figur hervor, die ihr reales Leben - vor allem den Job - als Last empfindet und die komplette Freizeit im Internet verbringt. Der -eigentlich- junge Mann spricht fast ausnahmslos in Anglizismen bzw. im „Web-Slang“, ist aber vollkommen überfordert, als er einen beruflichen Vortrag in englischer Sprache halten muss. Dass im dortigen Hotel dann auch noch zur selben Zeit das Internet nicht funktioniert, treibt ihn quasi in den Wahnsinn. Ihn plagen Alpträume, wie seine ärgsten Forumsfeinde nun endlich angesichts seiner virtuellen Schweigsamkeit die Chance ergreifen, ihn mit Kommentaren quantitativ und qualitativ zu „besiegen“. Gleichzeitig lässt sich beobachten, dass die „Qualität“ dieser Äußerungen eine ausgesprochen relative ist. Gerade mit Blick auf Plattformen wie beispielsweise Twitter, die auf einer bestimmten Ebene Kommunikation befeuern, lässt sich feststellen, dass das Geschriebene meist nur so vor Banalitäten strotzt. Anstelle von intensivierter Gesprächskultur lässt sich eine extreme Verflachung von Kommunikation feststellen. So können Facebook-User beispielsweise so oft sie möchten ihren virtuellen „Freunden“ (nebenbei bemerkt hat insbesondere dieser Begriff im Studivz-/Facebook-Zeitalter eine ganz neue Semantik bekommen) ein Update darüber geben, das wievielte Bier sie gerade genießen.

„Ruhm“ nur ohne das eigene Ich

Der Wunsch zur Äußerung, zur Kommunikation mit anderen mag Auslöser dieser virtuellen Praxis sein. Vielleicht ist im Internet ein eigentlicher Ausdruck von wachsender zwischenmenschlicher Unfähigkeit zu sehen? Weil wir schon lange nicht mehr face-to-face miteinander kommunizieren können, schaffen wir uns im Internet Räume, die nicht nur die Kommunikation erleichtern (da sie speziellen Funktionen zugeordnet wird), sondern überhaupt erst ermöglichen. Kommunikation wird unterteilt, in den verschiedensten Räumen (z.B. bestimmten Foren) funktional ausdifferenziert. Man braucht keine besondere Rechtfertigung, keine Autorität – kurzum kein „Ich“, um an diesen Diskursen teilzunehmen. Aus diesem Grund boomt schließlich auch das Online-Dating: Man braucht dort keine Angst vor einer eventuellen Zurückweisung zu haben – schließlich ist man gar nicht da.

Die Episode in Kehlmanns Roman ist mit Sicherheit eine bewusst überspitzte Darstellung. Doch zeigt sie eine immer weiter zunehmende Unfähigkeit zur realen Kommunikation bei einer gleichzeitigen, sich verstärkenden Internet-“Kompetenz“. Im Prinzip kauft man sich in die dortigen Diskurse ein (immerhin kostet Internet Geld!), um in diesen Welten einen Narzissmus auszuleben, der in der Wirklichkeit entweder keinen Platz hat oder zu dem einem der Mut fehlt. Nicht zu Unrecht gibt es beispielsweise in dem Social Network Studivz eine Gruppe mit dem selbstironischen Namen „Hilfe, ich habe mich in meine Internetpersönlichkeit verliebt!“ Man kann sich in diesen Netzwerken paradoxerweise darstellen, ohne das eigene Ich zu zeigen. Wir erschaffen im Internet Identitäten, die wir uns wünschen.

Medien machen Angst

Man kann natürlich auch medienhistorisch argumentieren, dass immer dann, wenn ein neues Medium zu großem gesellschaftlichen Einfluss gelangte, gleichzeitig Ängste entstanden. Befürchtungen, gerade mit dem „Sucht-Argument“, Endzeit-Visionen wurden geäußert. Das geschah bereits im 18. Jahrhundert, als das Buch zum Massenmedium wurde – damals entstand eine „Lesesucht-Debatte“. Nicht anders verlief es im 20. Jahrhundert (und auch noch heute) mit dem Fernsehen. Trotzdem kann man sagen, dass das Internet eine in der Geschichte beispiellose mediale Qualität erreicht. Wie es unser Leben, unseren Alltag weiter verändern wird, kann man vielleicht erst in einigen Jahren oder Jahrzehnten in der Retrospektive beschreiben.