Benutzer Real Emu schrieb:
Wallraff hat eben gerade NICHT, wie es der Amateur-Autor Kraus vielleicht machen würde, das gesamte "System" in Bausch und Bogen verdammt,
Zu viel der Ehre.
Ich bin nur Leser, kein Autor.
sondern - wie man es von einem gestandenen Journalisten auch erwartet - so detailliert wie möglich zu differenzieren versucht. Die Besonderheit Wallraffs ist natürlich seine Undercover-Recherche direkt in der "Höhle der Löwen" - das hat er den meisten seiner Journalistenkollegen voraus. Seine Glaubwürdigkeit steht für mich nahezu außer Zweifel,
Das hatte ich auch nicht behauptet.
und seine heutigen Artikel haben ebenso ihre Berechtigung wie die der 70er oder 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Ich kenne persönlich zwar nur 4 CC-Mitarbeiter (davon 3 ehemalige), sie bestätigen Wallraffs Thesen über die kriminellen Machenschaften bei der Cold-Call-Akquise aber zu nahezu 100%.
Genau hier setzt meine Kritik an:
Wallraff hat sich nicht weiterentwickelt - aber das System des Neokapitalismus schon. Sein investigativer Stil hatte in den 1970er Jahren seine Berechtigung. Weil es damals noch viel genauer gegeneinander abgegrenzte Klassen gab. Wen, außer den Arbeitern selbst, interessierte damals schon die Ausbeutung von Fremdarbeitern und einheimischem Lumpen-Proletariat? Richtig: Die sozialdemokratische Mittelschicht. Und die kaufte seine Bücher und so wurde er zum Erfolgsautor.
Heute ist das ganz anders. Die Grenzen verschwimmen. Es gibt kein Proletariat mehr, dafür parallel existierende ausgebeutete Schichten, die überhaupt nichts miteinander gemein haben: Ungelernte Arbeiter, Prekariat, sozial Schwache mit der üblichen Allgemeinbildung. Callcenter selbst sind nur ein Symptom, aber nicht der Kern des Üblen. Seine Recherche setzt völlig falsch an, da er an die Basis geht, direkt ins Callcenter.
Die Machenschaften der Callcenter kann er dort überhaupt nicht recherchieren, weil sie dort gar nicht erdacht und projektiert werden. Was er sieht, ist der Bodensatz. Und den versucht er mit seiner Sichtweise der 1970er Jahre zu recherchieren und analysieren. Das kann nicht funktionieren.
Und um das zu erkennen, braucht es nicht viel. Es reicht, wenn man schon einmal mit ein paar Leitenden dieser Branche Kontakt hatte. Zum Beispiel als potentieller Auftraggeber für irgendwelche Kaltakquise-Aufträge. Das wäre eine investigative Methode der Jetzt-Zeit gewesen. Aber so...
Mit sozialistischem Gruß
GKr