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Editorial: Alle Jahre wieder

Ver.di und der Streik bei Amazon: Welche Hausaufgaben die Dienstleistungsgewerkschaft nicht gemacht hat, und wie Amazon diesen Umstand zum eigenen Vorteil nutzt.

Streik bei Amazon Alle Jahre wieder ...
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Alle Jahre wieder kommt das Christuskind auf Erden nieder, wo wir Menschen sind. Und alle Jahre wieder kommt der Streik bei Amazon, um uns daran zu erinnern, dass die vielen Geschenke nicht vom lieben Gott, sondern von anderen Menschen kommen. 10 000 Logistiker beschäftigt Amazon über das Jahr hinweg, zur Weihnachtszeit kommen noch einmal 10 000 Saisonkräfte dazu.

Nun bezahlt Amazon seine Mitarbeiter nach Tarif, doch nach Ansicht der zuständigen Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di nach dem falschen: Amazon wendet den Tarif für Logistikunternehmen an, Ver.di möchte jedoch den Tarif für Einzelhandelsunternehmen angewendet wissen. Für Amazon zahlt sich das aus, denn sie müssten die Masse der Mitarbeiter, die Ware aus Regalen in Pakete packt, nach Einzelhandelstarif deutlich höher bezahlen.

Nun ist Amazon weder ein typischer Einzelhändler - es gibt keine Geschäfte und für die meisten Mitarbeiter keinen direkten Kundenkontakt - noch ein typischer Logistiker, der bereits verpackte Pakete oder Paletten von A nach B transportiert. Und die bei Amazon besonders zahlreich arbeitenden Kommissionierer/-innen - das sind diejenigen, die die einzelnen Aufträge gemäß Kundenbestellung aus dem Gesamtsortiment herausgreifen - sind in beiden Tarifverträgen enthalten, wie man dem Tarifregister NRW entnehmen kann (hier für Einzelhandel und hier für Onlinehandel).

Erhebliche Gehaltsunterschiede

Streik bei Amazon Alle Jahre wieder ...
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Die Grundvergütung unterscheidet sich zwischen beiden Tarifverträgen deutlich: In NRW bekommen die Kommissionierer/-innen im Einzelhandel bei einer 37,5-Stunden-Woche mindestens 2 106 Euro monatlich, in der Logistik-Branche hingegen nur 11,31 Euro pro Stunde, entsprechend ca. 1824 Euro monatlich. Der Einzelhandels-Kommissionierer verdient also ca. 15 Prozent mehr!

Statt jetzt nur auf Amazon zu schimpfen, dass sie sich für den günstigeren Tarifvertrag entscheiden, muss man auch Ver.di fragen, warum sie den/die Kommissionierer/-in, der/die bei einem Lagerlogistiker entscheidet, welche Paletten zuerst rausgehen, und der/die auch bei Teilmengen durchaus Paletten umpacken muss, gegenüber dem/der Kommissionierer/-in, der/die im Einzelhandel Ware in Pakete packt, benachteiligen. Dabei dürfte die Verantwortung, die der Großhandels-Kommissionierer trägt, sogar deutlich höher sein. Das beginnt mit dem Wert der Ware und endet noch lange nicht mit der Beachtung von Gefahrgutvorschriften. Von einem einzelnen Handy mit einem Li-Ion-Akku geht beispielsweise viel weniger Gefahr aus als von einer ganzen Palette mit Li-Ion-Akkus.

Sicher steht die klassische Transportwirtschaft unter höherem Konkurrenz- und Kostendruck als der Einzelhandel, weil sie sich schlechter differenzieren kann. Die reine Transportleistung ist viel austauschbarer als die konkrete Präsentation einer bestimmten Ware in einem Ladengeschäft an einem festen Ort. Entsprechend schwerer fallen Ver.di die Tarifverhandlungen in der Transportwirtschaft. So lässt sich die Entstehung der Schere in der Bezahlung zwischen Einzelhandel- und Transportwirtschaft zwar erklären. Das liefert aber noch keine Begründung dafür, dass Ver.di der Entstehung dieser Verdienstschere dennoch offensichtlich jahrelang tatenlos zugesehen hat.

In den letzten Jahren ist es zudem zu einer deutlichen Erweiterung des Begriffs "Logistik" gekommen. Wurde früher darunter vor allem die Organisation des Transports selber gesehen, gilt heute als "Logistik" die Erfüllung der 6 R: Die Bereitstellung oder Abholung der richtigen Menge der richtigen Güter/Personen am richtigen Ort zum richtigen Zeitpunkt in der richtigen Qualität zu den "richtigen" (also möglichst geringen) Kosten. Das beinhaltet auch Aufgaben, die früher klassischerweise dem Handel zugeordnet wurden - allen voran die Sicherung der Qualität. Dieser Wandel der Logistik-Branche hat viele Buzzwörter hervorgebracht: "just in time", "on demand" und dergleichen mehr.

Mit der Übernahme zusätzlicher Aufgaben durch die Logistiker steigt deren Bedeutung und sinkt deren Austauschbarkeit. Ein 6R-Logistiker hat eine ganz andere Verantwortlichkeit und somit auch ganz andere Differenzierungsmöglichkeiten gegenüber seinen Auftraggebern als eine einzelne Spedition oder ein einzelner Lagerist. Das sollte sich dann auch im Gehalt der Mitarbeiter niederschlagen, die zur Wertschöpfung beitragen. Hierauf zu reagieren, ist die Aufgabe von Ver.di. Diese lässt sich aber nicht dadurch lösen, dass einzelne Konzerne vom Logistik- zum Handelsunternehmen hochgestuft werden. Vielmehr ist die genannte Gehaltsdifferenzierung insgesamt in Frage zu stellen, wenn die Unterschiede zwischen Handel und Logistik schwinden! Das hat man bei Ver.di aber anscheinend noch nicht erkannt, und bei der letzten Neuverhandlung des Logistik-Tarifvertrags einer mehrjährigen Laufzeit zugestimmt. Zwar steigt zum 01.07.2015 der Lohn für Logistiker generell um 3,2 Prozent - aber eben erst dann.

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